Stiftung Naturschutz

„Küstenschutz war eine heilige Kuh“

Interview mit Prof. Dr. Karsten Reise am 17.02.2023 in List auf Sylt

Vita

Ich bin 1946 geboren und in einem Haus am Westensee zwischen Kiel und Rendsburg von Wald umgeben aufgewachsen. Der Schulweg durch den Wald zur Dorfschule Wrohe betrug drei Kilometer und war mit Pilzesammeln verbunden. Als ich acht Jahre alt war, zogen wir nach Flensburg. Mein Vater hat dort für einen Grenzlandverein für Kindergärten, Schulen und Schulland­heime gearbeitet und hatte darüber eine Beziehung nach Sylt zu einem Schullandheim in Rantum. Das hat mich mit der Insel Sylt zusammengebracht, sodass ich mich nach Schule und Studium in Kiel und Aufenthalten an diversen anderen Universitäten, zuletzt in Kalifornien und Washington, entschloss, eine Möglichkeit zu suchen, auf Sylt zu arbeiten. Ich machte hier in List in der Wattenmeerstation der Biologischen Anstalt Helgoland meine Doktorarbeit. Seitdem bin ich auf Sylt sesshaft. Ich hatte Professuren an diversen Universitäten: in Göttingen, Hamburg, Kiel, zwischendurch auch im Ausland, aber mein Lebensmittelpunkt ist immer auf Sylt geblieben. Nach meiner Promotion war ich als Wissenschaftler in der Biologischen Anstalt Helgoland und nach deren Auflösung im Alfred-Wegener-Institut beschäftigt.

Wann hast du begonnen, dich für den Naturschutz zu engagieren? Was oder wer hat dich beeinflusst? Wann war das?

Mit zwölf Jahren, und das lag daran, dass ich mitten im Wald am Rand des Westensees aufgewachsen war. Als wir nach Flensburg kamen, ging mein Bruder gleich in die Jugendgruppe des dortigen Vogelschutzvereins, die sich dem Deutschen Jugendbund für Naturbeobachtung (DJN) anschloss. Ein ziemlich kleiner Verein, eine Schwesterorgani­sation des niederländischen Nederlands Jeugdbond voor Natuurstudie (NJN). Da kann man ab zwölf Jahren Mitglied werden und ich bin meinem Bruder darin gefolgt. Mit 25 Jahren muss man den Verein wieder verlassen. Es sind also nur Jugendliche, die Natur beobachten, Pflanzen bestimmen, vor allen Dingen Vögel gucken, aber natürlich war und ist Naturschutz mit dabei. Aus dieser Zeit rühren Freundschaften, die bis heute bestehen, unter anderem mit Uli Irmler, Sprecher im Landesverband Naturschutz, mit Jürgen Eigner oder Hartmut Roweck. Seitdem hat mich der Naturschutz nicht losgelassen, obwohl ich beruflich in die Hardcore-Forschung eingestiegen bin, die nicht unmittelbar etwas mit Naturschutz zu tun hatte.

Wo, wann und in welcher Funktion hast du dich eingesetzt? In welchen Gebieten, auf welchen Flächen, in welchen Einrichtungen, ehrenamtlich oder hauptamtlich? Was waren die Aufgaben deiner Wirkungsstätten? Was hast du dort konkret gemacht?

Unsere Forschung hat nicht unmittelbar etwas mit Naturschutz zu tun, und auch fast alle meine Kollegen in der Biologischen Anstalt Helgoland hatten mit Naturschutz überhaupt nichts im Sinn. Da war ich eher eine Ausnahme.

Meine Diplomarbeit hatte ich noch im Wald im Solling an der Universität Göttingen gemacht. Da suchte man um 1972 nach Leuten, die mit Hilfe von Computern eine Ökosystemanalyse machen. Dafür begab ich mich an die University of California. Die Arbeit am Computer gefiel mir allerdings gar nicht und ich entschloss mich, lieber an die Küste zu gehen. Der Titel meiner Doktorarbeit hier in der Wattenmeerstation auf Sylt lautete „Feinddruck auf die Wattfauna der Nordsee“. Ich habe herausgefunden, dass sich die Jugendstadien der Krebse, Muscheln und Würmer wie die Jugendbanden in der West Side Story bekämpfen, dass aber beispielsweise strenge Winter die Entwicklung der Populationen unterschiedlich beeinflussen. Die Ergebnisse aus dieser Arbeit waren ein richtiger Knüller, damit wurde ich in der Szene bekannt und es ging mit einem Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft und einer zunächst befristeten Stelle weiter.

Gleichzeitig wollte die Landesregierung Schleswig-Holstein die Nordstrander Bucht nördlich von Husum eindeichen und wollte dafür namhafte Gutachter engagieren: Professor Berndt Heydemann und Professor Klaus Dierßen und weitere fielen aus, weil sie sich anlässlich einer Tagung schon vorher gegen eine Großeindeichung ausgesprochen hatten. Dadurch kam ich als Ersatz für Berndt Heydemann in die günstige Lage, mit viel Geld die Auswirkungen einer Eindeichung der Nordstrander Bucht auf die Wattfauna zu bewerten. Die Großeindeichung war eine sehr kontroverse Angelegenheit, die Naturschutzverbände in Schleswig-Holstein waren total dagegen. Ich auch, was ich aber als objektiver Wissenschaftler nicht so zeigen durfte. Seitens des Auftraggebers, des heutigen Landesbetriebs für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz Schleswig-Holstein (LKN) in Husum, wurde ich sogar unter Druck gesetzt, diese und jene Formulierung in meinem Gutachten zu ändern, was ich natürlich nicht gemacht habe. Daraus ergab sich ein nicht so entspanntes Verhältnis zum Küstenschutz. Diese Konfrontation mit dem Küstenschutz war mein Zugang in den Naturschutz.

Hauptamtlich war ich Naturwissenschaftler – erst an der Biologischen Anstalt Helgoland und später am Alfred-Wegener-Institut. Ich habe in der Antarktis und im Lena-Delta geforscht. Ich habe weiterhin meine Kontakte zu Naturschutzverbänden gehabt und bin immer wieder zu Referaten eingeladen worden.

1985 wurde der Nationalpark Wattenmeer eingerichtet. Mehrere meiner Doktoranden haben einen Job im Nationalparkamt bekommen und ich hatte dadurch eine enge Verbindung zu dem, was im behördlichen Naturschutz läuft. Als der Nationalpark eingerichtet wurde, wurden lauter Schutzzonen über das gesamte Wattengebiet verteilt. Das sah sehr nach buntem Flickenteppich aus. In meinem Vortrag zum Jubiläum der Schutzstation Wattenmeer habe ich vorgeschlagen, diese Flecken zu größeren Tidebecken zusammenzulegen mit einem besonderen Schutzstatus, als Ruhezone 1. Das fand später Eingang in das neue Nationalparkgesetz.

Sowohl im Naturschutz als auch in der Forschung bin ich mehr der Theoriekopf, der sich Hypothesen oder Alternativen zu bekannten Weisheiten ausdenkt. Ich habe nicht durch Tat, sondern durch Rat eingewirkt.

Ich hatte eine enge Zusammenarbeit mit dem Nationalparkamt im schleswig-holsteinischen Nationalpark und sehr enge Kontakte insbesondere zur niederländischen Wattenmeer-Forschungsszene über das trilaterale Wattenmeersekretariat in Wilhelmshaven, das die Zusammenarbeit von Dänemark, Deutschland und den Niederlanden für den Schutz des Wattenmeeres koordinierte. Niederländische Freunde aus meiner DJN-Zeit traf ich hier in der internationalen Meeresforschung wieder. In diesem Rahmen habe ich mit Forschungsprojekten auch engen Kontakt nach Korea gehabt. Es gibt im Gelben Meer auf der chinesischen und koreanischen Seite große Wattgebiete. In Korea wurden große Ästuare eingedeicht – aus anderen Gründen als in der Nordstrander Bucht. Der trilaterale Nationalpark Wattenmeer ist 2009 Weltnaturerbe geworden und das hat inzwischen auch in Korea geklappt.

Enge Verbindungen hatte ich über Forschungen auch entlang des Zugweges der Vögel, die sich hier bei uns im Wattenmeer den Bauch vollschlagen und in Mauretanien in Banc d‘Arguin in einem Wattgebiet überwintern. Durch das Alfred-Wegener-Institut bin ich mehrfach in Sibirien gewesen. Meine Aktivitäten waren also mehr im internationalen Bereich.

Welche Programme, Richtlinien, Einrichtungen, Institutionen etc. haben deine Arbeit beeinflusst, und wie beurteilst du deren Wirkung?

Es gab, kurz nachdem der Nationalpark eingerichtet wurde, ein vom Bundesforschungs­ministerium und Bundesumweltministerium gemeinsam gefördertes Großprojekt „Ökosystemforschung Wattenmeer“, bestehend aus einem Teil Grundlagenforschung, in den ich hauptsächlich involviert war, aber auch einer Reihe von Projekten, die angewandte Bedeutung haben, also für den Naturschutz direkt nutzbar sein sollten. Unsere Kartierung der Seegraswiesen wie auch das Monitoring wurde in diesen Bereich integriert.

Zu diesem Programm hatte ich ein schwieriges Verhältnis, denn ich lehne die Vorstellung von einem natürlichen Gleichgewicht in der Natur ab. Ich halte es für ein Hirngespinst, durch das wir uns so etwas wie eine romantische heile Welt in der Natur zusammendenken – aber die Natur ist nicht so. Eine einzelne Art kümmert sich einen Dreck um das ganze Ökosystem. Das Ökosystem schüttelt sich und fügt sich verändert zusammen, wenn etwas Neues hinzutritt oder Altes wegfällt. „Ökologische Gefüge“, so nenne ich sie lieber als „Systeme“, sind eher geschichtliche Produkte, die im Laufe der Zeit und vor allen Dingen auch durch Einwirkung des Menschen so entstanden sind, wie sie heute sind. Hier an der Küste kommen viele aus Übersee mit dem Schiffsverkehr eingeschleppte Arten hinzu und wir können nicht beobachten, dass das Ökosystem anfängt zu schlingern, geschweige denn zusammenbricht.

2009 wurde das Wattenmeer zum Weltnaturerbe erklärt, was einen großen Einfluss hatte. Daran habe ich erheblich mitgearbeitet. Wir mussten ein ganzes Buch für den Weltnaturerbe-Antrag schreiben, die Begründung aus naturwissenschaftlicher Sicht habe ich beigetragen. Das war eine richtige Herzenssache. Insbesondere, weil wir bei Konflikten zwischen Naturschutz und Küstenschutz auf regionaler Ebene nicht weiterkamen. Küstenschutz war die heilige Kuh. Der ist überlebenswichtig. Der Naturschutz hatte da kaum eine Chance. Das Ganze musste also größer aufgehängt werden. Als anerkanntes Weltnaturerbe spielt das Wattenmeer in derselben Liga wie der Grand Canyon, die Galapagosinseln oder das Great Barrier Reef. Seitdem es diese internationale Anerkennung gibt, befinden sich Küsten- und Naturschutz zunehmend auf Augenhöhe.

Welche Ziele waren dir bei deiner Arbeit für den Naturschutz wichtig? Haben sich die Ziele im Laufe der Zeit verändert?

Ich sehe mich im Naturschutz nicht als Macher, sondern als Ideengeber. Der Naturschutz muss sehr breit aufgestellt sein, um „wirkmächtig“ zu sein. Es geht mir darum zu überzeugen. Wir müssen weg vom Verbotsnaturschutz, z.B. „Dünenschutz ist Inselschutz.“ Kein Kurgast darf in die Dünen gehen. Dabei ist die Dünenvegetation aufgrund der Eutrophierung sowieso viel zu dicht gewachsen. Wenn da ein bisschen Vegetation zertrampelt wird, ist es umso besser. Dann können sich wieder Wanderdünen bilden und wir haben Dynamik in der Natur und das volle Artenspektrum, die Biodiversität.

Jüngstes Beispiel ist die Wanderdüne kurz vor List, die in den nächsten 25 bis 50 Jahren an die Landesstraße heranrücken wird. Früher wurde sie zum Teil mit Kunstdünger bestreut, mit Reisig Windzäune errichtet und dazwischen Strandhafer gepflanzt. So wurde aus einem Teil der Wanderdüne eine Düne im Ruhestand. Von den einst etwa 50 Wanderdünen auf Sylt sind nur noch drei übrig. Ich finde, es passt nicht mehr in die Zeit, solche Dünen durch Bepflanzungen festzulegen. Wir sollten sie weiterwandern lassen. Warum soll nicht die Düne mal Vorfahrt haben? Ich habe vorgeschlagen, dass wir einen Tunnel für den Straßenverkehr bauen, sodass die Düne sich dann obendrüber vom Wind treiben lassen kann. Wir wollen heute nicht mehr die Naturbeherrscher sein, sondern wir wollen ein Miteinander mit den Naturvorgängen. So ein Tunnel wäre natürlich sehr teuer. Aber wenn sich alle Grundstücksmakler auf Sylt zusammentäten, wären es Peanuts. Das habe ich auf Vorträgen immer erzählt und hatte die Lacher auf meiner Seite. Jetzt hat eine Studentin die Idee aufgegriffen, Kontakt zu einem Architekten aufgenommen, der etwas vom Tunnelbau versteht, und sich mit dem Straßenbauamt in Flensburg in Verbindung gesetzt. Diese Idee hat jetzt eine ganz eigene Dynamik bekommen. Irgendwas passiert oder vielleicht auch nicht. Das ist egal. Über die Diskussion, die darum entbrannt ist – es gab Berichte in der Sylter Rundschau und im Hamburger Abendblatt, Fernsehsender interessieren sich auch dafür – kann man die Botschaften des Naturschutzes transportieren: Wenn wir Artenvielfalt in den Dünen haben wollen, dann müssen wir eben auch die natürliche Dynamik zulassen.

Was würdest du als deinen größten Erfolg in Sachen Naturschutz bezeichnen und warum?

Dass sich nach der nunmehr 30 Jahren kontroverser Geschichte, an der ich beteiligt war, der Naturschutz und der Küstenschutz auf Augenhöhe begegnen, ist nicht allein mein Werk, aber ich habe mit dazu beigetragen. Ich war immer an der Front in dieser Auseinandersetzung, habe mich immer mit dem Küstenschutz gerieben. Ich konnte das, weil ich im Gegensatz zu den Küsteningenieuren, die in behördliche Hierarchien eingebunden sind, als Universitätsprofessor immer sagen konnte, was ich wollte. Mir hat niemand ´reingeredet.

Heute kann ich völlig entspannt mit den Experten vom Küstenschutz wie mit Partnern reden. Das ganze Wassermanagement an der Westküste hängt mit dem Küstenschutz zusammen und der Naturschutz hat da überhaupt keine Chance, wenn er nicht vom Küstenschutz und der Wasserwirtschaft ernst genommen wird. Inzwischen sind wir so weit.

Auch beim Thema Wiedervernässung. Die Niederländer und auch die Engländer haben schon eine ganze Reihe abgesackte Köge wieder unter Wasser gesetzt und der Natur freien Lauf gelassen. Wir hängen in Deutschland ein bisschen hinterher, aber wir kriegen das auch noch hin.

Wann ist dir der Begriff Klimaschutz zum ersten Mal begegnet?

Hans Joachim Schellnhuber und Horst Sterr organisierten 1991 in Wilhelmshaven zum ersten Mal hier an der Küste eine Tagung zu dem Thema „Klimaänderung und Küste“. Seitdem ist das ein wichtiges Thema. Vorher wusste man auch schon, dass der Meeresspiegel steigen wird, aber das war eher Theorie und spielte in der Praxis keine große Rolle. Ich habe damals zum Watt einen Vortrag gehalten und darin schon vorgeschlagen, dass wir diese harte Grenze zwischen Land und Meer wieder aufweichen müssten. Dass wir die Marschen wieder unter Wasser setzen sollten, dadurch zum Klimaschutz beitragen, weil dort viel CO2 entweicht, das aber gespeichert werden kann, wenn man die Marsch nass hält. Die Marsch kann sich aber auch zu einer Methan-Schleuder entwickeln, wenn man es verkehrt macht. Wie bei den Mooren, müssen da noch Erfahrungen gesammelt werden.

Hast du Klimaschutzaspekte bei deiner Naturschutzarbeit aktiv mit einbezogen? Wo und wann ist dir das mit welchen Maßnahmen gelungen.

Mit der Klimawandel-Diskussion und ihrem Einfluss auf unsere Forschungsarbeit ging es mit Beginn der 1990er-Jahre los. Seitdem war das Thema Klimaänderung fester Bestandteil in unserer Forschung. Allerdings anfänglich nicht dominierend. Zur Ökosystemforschung Wattenmeer hatten wir ein Spezialprojekt bei Sylt laufen. Im Synthese-Buch von 1998 haben wir damals schon geschrieben, dass es klug wäre, gegenüber auf dem Festland die Tonderner Marsch, die ganz tief liegt, wieder unter Wasser zu setzen. Da kam schon etwas Überlegung zur Klimaanpassung und zum Meeresanstieg hinein. Das stieß aber Ende der 1990er-Jahre noch auf taube Ohren.

Das Bundesforschungsministerium begann dann sehr langsam, die Klimafolgenforschung hier an der Küste zu finanzieren. Davon hatten wir mit „Klimafolgen für Mensch und Küste“ auch ein Projekt hier auf Sylt um die Jahrtausendwende. Im Weser-Ästuar hatten sie auch ein solches Projekt und wir haben hier die Fallstudie Sylt durchgeführt, schon mit dem Klimawandel als Hauptthema. Schwerpunkt war der Meeresspiegelanstieg als Spezifikum für die Nordseeküste.

Wir fingen verstärkt an, uns Gedanken darüber zu machen, wie wir das Thema Klimawandel an der Küste verkaufen können. Ich hatte die Erfahrung gemacht, dass Polemisieren ein Thema zwar erst mal in Gang bringt, dass das auf Dauer aber nicht zum Erfolg führt, sondern nur, wenn man eine breite Öffentlichkeit für sich gewinnt. Es geht darum zu überzeugen.

Haben sich im Nachhinein Maßnahmen, die andere Ziele verfolgten, deiner Meinung nach als klimarelevant erwiesen?

Ja. Primär ging es hier darum, wie man langfristig bei schneller steigendem Meeresspiegel die Nordseeküste schützen kann. Das könnte gelingen, wenn man das Land mit dem Meer auf gleichem Niveau hält, das Land also mitwächst. Das wäre aktiver Klimaschutz mit Hilfe des Meeres, das seine Sedimente auf dem Land ablagern kann.

Und zum Thema Seegraswiesen:

Bis in die 1930er-Jahre hinein gab es sehr viel Seegras. Dann kam eine Seegras-Pilzkrankheit, die vermutlich aus Amerika eingeschleppt wurde, sodass die Seegraswiesen in dem dauerhaft mit Wasser bedeckten Bereich vom Wattenmeer abstarben und nie wiederkamen. Der Grund liegt wahrscheinlich in zu trübem Wasser. Die Seegrasbestände im Gezeitenbereich überlebten, weil der Pilz nicht so gut im Gezeitenbereich leben konnte. Diese Bestände gingen später aber durch die zunehmende Eutrophierung zurück. Zu viele Nährstoffe bedeuten, dass zu viele Mikroalgen auf den Blattoberflächen der Seegräser wachsen und ihnen das Licht wegnehmen. Dann stirbt das Seegras ab. Also von den Dreißigern bis in die Siebzigerjahre wurde das Seegras immer weniger. Anfang der 1970er-Jahre gab es ein Minimum. Spätestens seit den 1980er-Jahren begannen Maßnahmen zum Umweltschutz wie das Uferrandstreifen-Programm und natürlich auch die Kläranlagen allmählich zu greifen, sodass ab Mitte der 1990er-Jahre die Nährstoff­konzentration hier im Küstenwasser etwas zurückging und sich die Seegrasbestände erholten. So haben wir heute im Gezeitenbereich wieder so viel Seegras wie in den 1930er-Jahren. Das wissen wir dank der Luftaufnahmen, die das Militär damals gemacht hat.

Das Wattenmeer spielt im Klimaschutz aber eher eine marginale Rolle. Es sind vor allen Dingen die Salzwiesen, die wie die Moore sehr viel CO2 speichern. In weitaus geringerem Maße sind es die Schlickwatten, wo viel organische Substanz versenkt wird, ohne dass sie völlig abgebaut wird. Aber Schlickwatten nehmen flächenmäßig einen sehr geringen Anteil ein. Der größte Teil ist Sandwatt und Sandwatt ist ähnlich wie Strand ein perfektes Recycling-System. Alles, was an organischer Substanz dort hineinkommt, wird verarbeitet und geht letztlich als CO2 wieder ´raus ins Wasser oder in die Atmosphäre.

Seegräser gelten weltweit als eine bedeutende CO2-Senke, aber die Seegraswiesen, die es heute noch im Nordseewatt gibt, wachsen nur im Auftauch-Bereich. Die Blätter sind dort nur kurz, selten über 20 cm lang. Und wenn sie nicht von Wasservögeln, Ringelgänsen und Pfeifenten, gefressen werden, fallen im Herbst die Blätter ab. Die meisten werden dann ans Ufer gespült. Das Seegras hat zwar ein ausdauerndes Rhizom im Wattboden, aber die Menge an darin gespeichertem Kohlenstoff ist nur gering. Von daher spielen die Gezeiten-Seegraswiesen, die es hier im nordfriesischen Wattenmeer in großer Ausdehnung gibt, für den Klimaschutz eine marginale Rolle. Es ist weniger als das, was ein Trockenrasen leistet. Bedeutender sind Salzwiesen und Schlickwatt. Im übrigen Wattenmeer gibt es kaum noch Seegras. In der Ostsee wächst dagegen das langblättrige, große Seegras. Dies bindet ungleich mehr Kohlenstoff als das kleine Seegras im Wattenmeer und ist dort eine wichtige Kohlenstoffsenke.

In welchen Bereichen ist die Integration von Naturschutz und Klimaschutz am besten gelungen? Was waren die entscheidenden Faktoren?

Das ist noch Zukunft, das Wiedervernässen von Landschaft. Aber es gibt Ansätze: An der Weser musste Bremenports ökologischen Ausgleich zu schaffen. Dafür haben sie einen Koog aufgekauft und unter Wasser gesetzt. Das hat sich ganz toll entwickelt und ich verwende es als Vorzeigebeispiel, wie es – jedenfalls im kleinen Maßstab – funktionieren könnte. Aber an der Nordseeküste insgesamt ist das noch Zukunftsmusik, dass große zusammenhängende Gebiete wieder unter Wasser gesetzt werden. Immerhin ist die eingedeichte Nordstrander Bucht nicht landwirtschaftlich genutzt worden und wurde zu einem der größten Naturschutzgebiete in Schleswig-Holstein. Aber auch zum teuersten, weil man Salzwasser ´rein- und ´rausspült. Das kostet eine Menge Geld. Bei der Meldorfer Bucht ist es ähnlich. Da ist auch ein großer Teil wieder der Natur zugeführt worden.

Aber fruchtbare Marschenflächen, die heute in landwirtschaftlicher Nutzung sind, wieder zu vernässen, – da sind wir noch nicht angekommen. Ich bin ganz zuversichtlich, dass es in den nächsten zehn, zwanzig Jahren passieren wird.

In welchen Bereichen hat das Einbeziehen der Klimaschutzaspekte gar nicht funktioniert? Woran lag das? Am fehlenden Wissen/Bewusstsein, an Sachzwängen oder an handelnden Personen?

Es hat sehr lange gedauert, aber dann klappt es doch. Man muss dicke Bretter bohren und keine Auseinandersetzung scheuen. Die Auseinandersetzung mit dem Küstenschutz war für mich immer eine Auseinandersetzung mit Sicherheitsnetz. Mir konnte als Uni-Professor nichts passieren. Außer, dass ich nie über den Küstenschutz Forschungsgelder bekommen habe, was andere Kollegen sehr wohl bekamen. Dafür gab es andere Töpfe. Ich bedauere es nicht, dass ich mich mit meinen Erkenntnissen und Ideen aus dem Fenster gelehnt habe.

Gibt es, wenn du auf die einzelnen Projekte zurückblickst, Dinge, die du heute in Bezug auf den Klimaaspekt anders machen würdest?

Nein.

Wie sieht für dich erfolgreicher Naturschutz verbunden mit Klimaschutz in Zukunft aus, und wo siehst du die Grenzen des Zusammenwirkens?

Die Grenzen sehe ich vor allem in den Köpfen der Menschen. Hier in unserer Küstenregion musste man sich über Jahrhunderte gegen die Nordsee wehren und es gab sehr viele Opfer. Von daher besteht kein entspanntes Verhältnis zu diesen Naturgewalten. Das betrifft auch das Verhältnis zur Natur und insbesondere zum Wattenmeer. Deshalb zeigten die Küstenbewohner eine eher feindliche Haltung gegenüber dem Nationalpark Wattenmeer, der ihnen quasi übergestülpt wurde, weil das 1985 politisch opportun war. Die Bevölkerung hat man damals nicht mitgenommen, was hinterher eine ganze Kaskade von Komplikationen nach sich zog. Könnte man die Geschichte zurückspulen, wäre es besser gewesen, den Nationalpark erst zehn Jahre später zu installieren und bis dahin Überzeugungsarbeit bei der Küstenbevölkerung zu leisten. Vielleicht wäre es aber durch diesen jahrhundertelangen Kampf „Mensch gegen Mordsee“ auch nicht gelungen. So etwas braucht letztlich Generationswechsel, um es in weichere Bahnen, also vom harten in den weichen Küstenschutz zu überführen. Heute sind wir so weit. Hier bei Sylt ist es schon lange eine Selbstverständlichkeit, dass die alten Stahl- und Betonbuhnen von der Küste weggenommen werden. Man macht nur noch Sandaufspülungen. Der nächste Schritt wäre dann die Wiedervernässung. Da sind wir noch nicht.

Ich habe über das Thema auch an Schulen vorgetragen. Dabei habe ich übrigens festgestellt, dass man mit Schülern gut über solche Themen reden kann: Was tun, wenn der Meeresspiegel steigt? Und: Was müsste das an großflächiger Veränderung an der Küste nach sich ziehen? Es geht auch gut mit ganz alten Menschen, die wieder freier sind, weil sie nicht mehr in der Verantwortung sind. Aber mit den Profis im mittleren Alter, also Menschen, die zwischen 30 und 65 Jahre alt sind, ist es ganz schwer, über so schwierige und extrem langfristige Themen zu reden. Wenn man aber rechtzeitig mit den jungen Menschen anfängt und sie damit aufwachsen, dann geht das. Dann ist kein Brett zu dick.

Nachdem ich 2013 in den Ruhestand gegangen bin, habe ich vom Hanse-Wissenschaftskolleg einen Auftrag für ein von der Bremer Landesbank finanziertes Projekt erhalten, und das Ergebnis war das Buch: „Kurswechsel Küste. Was tun, wenn die Nordsee steigt?“

Der Klimawandel äußert sich an der Küste durch Erwärmung und dann verändert sich dies und jenes, was ich aber für nicht so dramatisch halte, weil die Fauna und Flora dann bei uns hier so aussehen würde wie die an der Atlantikküste von Frankreich heute. Das ist nicht unbedingt schlechter. Das Hauptproblem für die Küste ist der ansteigende Meeresspiegel im Zuge der globalen Klimaerwärmung. Dieses Buch richtet sich gegen den harten Küstenschutz. Ein Küstenschutz, der sich mit steinernen oder manchmal eisernen Bollwerken gegen den Feind, gegen die Naturgewalten wehrt. Aber die Naturgewalt weiß diese zu unterspülen und dann werden die Bollwerke immer massiver und die Deiche immer höher und breiter. Dann entsteht etwas, das wir in der Fachsprache coastal squeeze nennen. Also auf der einen Seite steigt das Meer und wird immer mächtiger, auf der anderen Seite rüstet der Küstenschutz immer weiter auf. Sie geraten in einen Stellungskrieg gegeneinander und bei diesem Stellungskrieg werden die naturbelassenen Salzwiesen, die Seegraswiesen, die Schlick- und die Wattflächen und dergleichen zerrieben. So kann es in der Zukunft nicht weitergehen.

Ich war früher das „Sandmännchen“ von der Küste, weil ich immer gesagt habe: Wenn ihr Steinpackungen im Küstenschutz verbaut, opfert ihr den fließenden Übergang vom Land zum Meer, wo jede Menge ökologische Nischen für Pflanzen und Tiere sind.

Die Halligen sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, von Steinen umgeben und ich habe empfohlen: „Macht es anders. Spült drumherum Sand auf. Schafft natürliche Strände. Dann habt ihr etwas für die Touristen, etwas für die brütenden Seeschwalben und Sandregenpfeifer und ihr habt einen fließenden, weichen Übergang vom Land zum Meer, wo sich die Sandlückenfauna und was sonst noch im Sand lebt, entfalten kann.“

Man kann einen Weg finden, Ökonomie, Mensch und Natur in Einklang zu bringen. Dazu kommt, dass es in manchen Bereichen klug ist, dem Meer nachzugeben. Wir haben viele Bereiche an der Küste, die heute schon tiefer als der Meeresspiegel liegen. Nachdem man das Land eingedeicht hatte, kam vom Meer keine neue Substanz mehr hinzu. Außerdem hat man entwässert, um gut Landwirtschaft betreiben zu können. Dadurch schrumpfte das Land und sackte immer tiefer. Es muss immer mehr entwässert werden und das Wasser zur Entwässerung muss dann auch noch für den Abfluss in die Nordsee hochgepumpt werden. Das kostet viel Energie. Ich habe empfohlen, in die besonders tiefliegenden Marschen entweder die Nordsee wieder hineinzulassen oder sie einfach zuregnen zu lassen, ohne sie wieder zu entwässern. Die ökonomische Zukunft liegt in einer Wasserlandschaft. Dafür braucht es aber noch viele Innovationen.

Natürlich sollten wir durch guten Klimaschutz dazu beitragen, dass das Meer nicht immer höher steigt, aber der Zug ist schon weitgehend abgefahren. In den nächsten zwei-, dreihundert Jahren wird der Meeresspiegel weiter ansteigen. Also bleibt uns nur der Weg, das Land wieder zu heben. Für die Menschen können wir es so machen, dass es in den tiefliegenden Kögen, so wie das heute auf den Halligen noch ist, Baugenehmigungen nur noch für Häuser gibt, wenn sie auf Warften, also auf künstlichen Hügeln angelegt werden oder auf Stelzen. Oder man lässt Touristen-Apartments auf einer Wasserfläche schwimmen.

Welche Ziele und Herangehensweisen hältst du in diesem Zusammenhang für realistisch?

Die Naturentfremdung nimmt immer weiter zu. Dagegen weiß ich natürlich auch kein Allheilmittel. Aber auf lange Sicht ist es tödlich für den Naturschutz, wenn sich Heran­wachsende nur noch mit ihren Computerspielen beschäftigen. Naturerleben muss tatsächlich früh im Leben anfangen. Da werden die Weichen gestellt. Ich kann mir nur ganz schwer vorstellen, dass jemand, der mit Computern und Autofahren aufgewachsen ist, zum Naturschutz kommt. Die aktiven Naturschützer haben sich alle schon früh für die Natur interessiert. Wenn ich eine Botschaft habe für den Naturschutz in der Zukunft: Er muss in der frühkindlichen Erziehung in den Kitas anfangen, um der Naturentfremdung entgegenzuwirken. Was man nicht kennt, wird man auch nicht schützen wollen.

Ich habe allgemein verständliche Bücher über Dünen und über das Watt geschrieben, und schreibe gerade mit einer Freundin zusammen eines über den Strand. Die Bücher behandeln die Themen Klimaschutz und Naturschutz in diesen drei Lebensräumen und beabsichtigen, Neugierde auf die Natur zu wecken. Ohne die werden wir uns nicht gut an die Klimaveränderungen, die kommen, anpassen können.

Hier auf Sylt haben wir schon jetzt jedes Jahr viel zu viele Gäste und es werden mehr, je stickiger es bei Überhitzung in den Großstädten wird. Auch dadurch kommen noch große Herausforderungen auf den Naturschutz zu. Wir können nicht einfach große Marschflächen unter Wasser setzen und sagen: „So, das ist jetzt alles Naturschutzgebiet und ihr Menschen bleibt draußen.“ Das müssen wir vermischen. Dann schwimmen eben die Apartments und zum nächsten Edeka muss man kitesurfen und andere Dinge der Verlangsamung in das Leben hineinbringen. Aber nicht mehr mit dem Auto durch die Marsch fahren.

Welche Fehler dürfen auf keinen Fall gemacht werden?

Durch das bürokratische Monster, das der Naturschutz mit sich bringt, ist er auf einem gefährlichen Weg. Ich weiß, dass das alles ganz kompliziert und zum Teil durch die Europäische Union (EU) vorgegeben ist, aber auch die EU lässt sich beeinflussen. Ein direktes Beispiel dazu: Das Dorf List wird durch einen Deich geschützt, der schon von der Reichswehr gebaut wurde. Nach dem heutigen Sicherheitsstandard war er bald nicht mehr hoch genug. Die Lister haben Baugebiet in der tiefen Marsch ausgewiesen und beschwerten sich, dass der Deich nicht mehr hoch genug sei. Lange hörte man nicht auf sie, weil es wichtigere Deichprojekte gab. Ich habe mit Studenten ein Projekt entwickelt, das Alternativen aufzeigte: Wir bauen nicht so einen Standarddeich, sondern hinter dem Deich spülen wir so viel Sand auf, dass Dünen entstehen, die höher sind als der Deich selber, und vor den Deich spülen wir einen breiten Strand auf. Aus der Naturschutz­verwaltung im Landesministerium hieß es dazu: „Das ist Natura 2000-Gebiet, da können wir keinen Sand aufspülen.“ Mit solchen fest gefügten Natura 2000-Regeln stellt sich der Naturschutz selbst ein Bein. Das stammt noch aus einer Zeit, als man keine dynamische Vorstellung von der Naturentwicklung hatte. Das Klima verändert sich, exotische Arten werden eingeschleppt und weiteres verändert sich durch Pflanzensukzession. Dieses Festhalten an dem Natura 2000-Korsett hat sich zu einem richtigen Gift im Naturschutz entwickelt. Das ist dringend renovierungsbedürftig, damit man flexibler handeln kann. Da sind in der Vergangenheit Fehler gemacht worden.

Es fehlt nicht am guten Willen, weder in der Gesellschaft noch im Naturschutz. Aber wenn Vorschriften einmal da sind, ist es eben sehr schwierig. Mit diesen ganzen Vorschriften ist der Naturschutz auch erfolgreich gewesen, wenn es darum geht, hier und da einen Autobahnbau zu verhindern. Das stärkt natürlich, wenn ich eine Rote-Liste-Art finde und damit das Projekt XY verhindern kann, wenn man wegen eines Wachtelkönigs ein Wohnungsbauprojekt nicht durchziehen kann. Niemand hat den Wachtelkönig je gesehen, sondern nur mal „Krex, Krex“ gehört. Damit kann man zwar in dem Moment erfolgreich sein, aber man überzeugt damit die Menschen nicht.

Dieses alte Bild von einem ökologischen Gefüge, das wie eine mechanische Uhr tickt, ist nicht richtig. Man kann der Natur tatsächlich viel mehr zumuten. Vor allen Dingen müssen wir ihre Veränderung, die sie nicht nur aufgrund des Klimawandels, sondern sowieso ständig vornehmen muss, zulassen. Wir brauchen keinen konservierenden Naturschutz, sondern einen Naturschutz, der die Veränderung begleitet. Und wir dürfen unsere normativen Vorgaben bezüglich Natur – beispielsweise wollen wir gerne eine hübsche Lüneburger Heide haben und managen sie entsprechend, dass sie nicht verwaldet – nicht mit etwas, das Naturgesetze genannt wird, vermischen.

Berndt Heydemann sprach Anfang der 1980-Jahre davon, dass Ende der 1980er-Jahre die Nordsee umgekippt sein würde, so wie man das von kleinen Dorfteichen kennt. Mir war von vornherein klar, dass das in der Nordsee nicht so laufen wird. Die Nordsee ist eine große Waschmaschine, die mit dem Atlantik fest verbunden ist, das kippt da draußen nicht um. Solche alarmistischen Doomsday-Projektionen haben kurze Beine. Heydemann hat das in bester Absicht gemacht, um so viel Naturschutz wie möglich für die Nordseeküste herauszuholen. Damit gehe ich völlig d'accord. Aber ich finde es nicht gut, das mit solcher Rhetorik zu machen. Meiner Meinung nach sollte man sich bemühen, das Gegenüber, mit dem man nicht übereinstimmt, zu überzeugen, aber nicht überreden. Das halte ich für Gift.